Ruhe in Bremen
Es ist der Freitag vor Pfingsten
die Zugfahrt wird mich heute
nach Jahren mal wieder nach
Hamburg bringen.
Die Reise beginnt mit zwei
Jungesellinnenabschieden
und lauter Musik in einem
überfüllten Waggon, eine
junge Mutter hält ihrem
Kind die Ohren zu und
derweil kommen sich
die Spaßgesellschaften
näher, sie sichten sich
wie zwei Herden in der
germanischen Tundra.
Musikalisch geht es
um viel Rhythmus bei
wenig Inhalt, Alkohol-
exzesse, Emanzipation
in der Hinsicht wurde
Gleichheit geschafft
Fortschritt nicht, sagt
der altkluge weiße Herr
der genervt mit mir und
seinen Kopfhörern
an der Tür steht –
wir erschrecken uns
vor der verlorenen
Toleranz, was hat man
nicht früher alles selbst
gemacht. Demut.
Die Hotelverteilung
für Düsseldorf wird
besprochen. In der
ersten Nacht wird
der Braut „noch 1x
ein Einzelzimmer“
zugesagt, in der
zweiten muss sie
dann in Gesellschaft
schlafen, wenn sie
sich alleine fühlt
dann kann sie sich
heute noch einmal
einen Mann oder
eine Frau mit aufs
Zimmer nehmen
oder beides…
das wird mehrfach
angedeutet, aber
nicht offen ausge-
sprochen. Eine
Mitreisende bietet
sich für ’nen 3er an
implizit, quasi schüchtern
komisch bleibt, dass
da so ein Bohei drum
gemacht wird, wir
leben doch in einer
pluralistischen und
offenen Gesellschaft
FREIHEITGLEICHHEITVIELFALTIGKEIT
warum zieht das Tabu
der sexuellen Frage
dann doch noch so stark
und wie lebt es sich
mit dem Geheimnis (bleibt keins)
in der Ehe, wenn man (freischaukelt)
eigene Freiheiten lieber (unbeschränkt)
polygam bestätigt (auslebt)
…
ich fühle mich fremd
und katholisch, weniger
wegen der Präferenzen
eher wegen der macht-
politischen Strukturen
die hier im offenen
Schweigen besprochen
werden. Mit den Worten
Vertrauen und Verantwortung
fühle ich mich noch älter als
vorher und irgendwie auch
spießig. Vater unser im Himmel…
Vielleicht verbindet uns das sogar
die Gruppe, mich und andere
alles bleibt eine offene Frage
ich träume von einer anderen
Welt, markiere ‚romantische Schule‘
mit einem Textmarker in neon
-gelb und suche das Highlight.
Bis Osnabrück fahre ich
in einem Vierer neben zwei
Schwestern, die junge Frau
erzählt Erfahrungen aus
dem Freibad topless und
bekommt eine Nachricht
von jemandem, sie wollen
zusammenziehen vielleicht
die Schwester fragt, warum
sie nicht einfach antwortet
aus einem Ratgeber liest
die jüngere vor, dass die Ehe
Menschen nicht glücklicher
macht: „…also lassen wir es
einfach.“ Ich frage mich, ob
man da einfach so einhaken
kann, aber lasse es und lese
Das Ende der Geschichte
die Oma ruft an, sie fragt
wo die beiden bleiben und
sie versteht die Verspätung
nicht, aber sorgt sich offen
was kann man da machen
nichts „ich gehe am Wochen
ohnehin etwas später
ins Bett. Flashback 1987
damals schon wieder, sie
freut sich auf die Kinder und
auf die bevorstehende Erinnerung.
Drei Haltestellen vor Osnabrück
kapituliert die Deutsche Bahn
der Zug endet im Nirgendwo
alle steigen aus und wir stehen
in großer Zahl zwanzig Minuten
am Bahnsteig, um auf den
nächsten, nicht weniger leeren
Zug zu warten. Dort können
wir theoretisch in der ersten
Klasse fahren. Hier funktioniert
die Transportgelegenheit aber
eher kumulativ. Zusammen
fühlt es sich nach dritter
Klasse an. Deutschlandticket
muss man halt wollen.
In Osnabrück wartet der
Anschluss nach Bremen
mit Verspätung, aber wir
sind so halbwegs wieder
on time und diesmal geht
sich die Sache vermutlich
gut aus. Zwischendurch
einige ich mich mit dem
Internet auf eine kurze
Verbindung und checke
meine E-Mails. Mit Erfolg.
Hinter mir beginnt ein
Telefonat über alles in
sehr laut, irgendwer wird
wird von einem Fahrer
irgendwo abgeholt.
Fame
muss man sich leisten
können. Die Freundin
weiß von nichts, sie
wirkt ratlos. Am Laut-
sprecher kündigt sich
Bremen an. Ausstieg.
Der nächste Zug fällt aus
eine Stunde warten um 11
früher war die Nacht jung
heute sind wir gemeinsam
froh, dass es alkoholfreies
Bier am Bahnhofskiosk
gibt. Man wird ruhiger
selbst beim Brotkaufen
merkt man das, eine Mutter
mit zwei Jugendlich bezahlt
nervös, unruhig mit der Karte
sie schaut zu mir rüber, auf
die Schlange hinter mir und
ich beruhige sie, versuche es
„Keine Eile, mein Zug fährt
sowieso erst in einer Stunde…“
sie kennt die Vorgeschichte
nicht und mir ist sie heute egal
das entzerrt die Wirklichkeit
für eine Sekunde, spürbar
das reicht, alles ist gut
nichts eskaliert
…
sitzen ist in Bremen nicht so
easy, aber muss auch nicht
ich stelle mich etwas an die
frische Luft, schaue auf den Dom
die Kirmes oder wie man das hier
nennt. Aus der Distanz höre ich
einigen Jugendlichen zu. Sie
sprechen über eine gestrichene
Anzeige, wegen Schlägerei; hier
suche ich kurz die Emanzipation
hier stark bleiben aber wie
…
am Bahnsteig wird 20 Minuten
später erneut eine Mutter
mit ihrer Tocher neben mir
auftauchen. Ich habe eine
einsame Bank an Gleis 9
gefunden und sie joinen
mit ihrem Gepäck, das
nach Pfingstferien
ausschaut, die Mutter
ist unruhiger als die
Tochter, die Tochter
ist interessiert. Ich
wandere ein wenig
über den Bahnsteig
bevor der Zug kommt
fragt die Frau, wo der
Zug halten wird und
auf meine Antwort
reagiert sie mit den
Worten: „Es werden
Hunderte kommen!“
…
tatäsächlich kommen
weniger, das ist wohl
hier und heute gut so.
Auf der Fahrt suche
ich weiterhin die Väter
dann sehe steigt ein
junges Paar ein, der
Mann hält auf dem Arm
seine Frau wird es in
wenigen Augenblicken
stillen und kurz wirkt es
wie die Idylle vor 1961.
Inzwischen stellt sich
Müdigkeit ein, der Tag
neigt sich dem Ende und
die letzte Station steht
schon auf der Anzeige
an einem Vierer trinken
junge Männer Bier und
eine Frau setzt sich dahinter
nachdem sie aufgeregt
angemerkt hat, dass Bier
trinken verboten sei und
es würde streng kontrolliert
die Gruppe ist weder laut
noch irgendwie auffällig
die Empathie wirft sich
auf die Strecke und der
Zug implodiert ohne
Verspätung kommen
wir in Hamburg an
…
keine Ereignisse
am Hauptbahnhof
alles wie immer nur
mehr Armut, wie schon
in Bremen ist die Inflation
sichtbar. Menschen brauchen
Hilfe und ich frage nach der U3
dann fahre ich Feldstraße, warte
kurz an der Kreuzung und atme die
Hafenluft, suche die Blicke und gehe
am Grünen Jäger vorbei, dann links und
die Treppe runter warten Freunde im Eldorado
wir fangen an, uns von heute, gestern und früher
zu erzählen.