Literatur vor der Entscheidung
Wenn ich die Geschichte meiner Generation betrachte, so bin ich verwundert darüber, was wir nicht vollbracht haben, obwohl man ja hätte werden können, zum Beispiel: freier Schriftsteller in der Bundesrepublik.
Wenn ich in die Welt hinausschaue oder hinein ins Internet, dann sehe ich nur Erfolge, nirgendwo Scheitern und Widerstand. Es ist das Paradies, weil es so gut ist, werden reihenweise Menschen depressiv. Paradoxerweise kommen trotzdem ziemlich viele, um diesen Hype zu erleben.
Man könnte sicher einiges bemerken über gewisse Struktur-Unterschiede zwischen früher und heute, Europa und Nicht-Europa. Aber nachdem die Systeme besiegt schienen, haben wir uns nur noch härter verglichen.
Das Schweigen in Deutschland hat einen Preis. Es kostet die Freiheit und führt zur Unterdrückung, zurück in den Faschismus oder voraus auf die Stunde 2033. Dann wird eine Entscheidung fallen, deren Radikalität nicht von ungefähr gekommen sein wird.
Was in Deutschland kommen wird, wird nicht der Sieg der Literatur sein, kein Triumph einer Bildungsnation und kein intellektuelles Weltbürgertum. Stattdessen erwartet uns ein Wiedererkennen der totalitären Gesinnung, die uns noch immer festhält in der autistischen Blase der Bürgerlichkeit.
Ich erinnere daran, weil Sie nur, wenn Sie diese Tatsache bedenken, die besondere Situation verstehen können, in der sich die Schriftsteller meiner Generation heute überall befinden.
Wir werden es erleben, dass eine Menschheit mit hoch entwickelter Sprache die gesamte Literatur vergessen wird. Kein Mensch wird mehr emigrieren können, weil es kein Land geben wird, in dem man die Sprache der Kunst noch versteht.
Ich klage übrigens niemanden an, am allerwenigsten die Menschen, denen ich täglich begegne.
Wir können die Sache heute noch stoppen, es muss nicht dazu kommen, dass wir die Literatur noch einmal beenden. Denn das hieße, dass wir noch einmal den Menschen beenden.
Als Schriftsteller ohne Generation arbeite ich heute daran, kein Ende der Literatur zu akzeptieren. Deshalb lese ich in den letzten Tagen vermehrt in Büchern, die den Bibliotheksstempel „ausgeschieden“ tragen.
Nach Auschwitz keine Bücher mehr zu lesen, können wir uns nicht leisten. Es bleibt uns keine andere Wahl, leider müssen wir es dennoch versuchen, auch wenn die Wohlstandsbäuche fett sind, und auch wenn das Lesen uns von der Urlaubsplanung abhält.
Ich denke, dass die Welt sehr gut ohne uns leben kann, ohne diesen Luxus, den Menschen und seine Literatur. Aber ich hoffe, dass nicht dazu kommt.