Samstag, abends

Ein Mann in
einem blauen Sweatshirt
– kenne das deutsche
Wort dafür nicht –
liegt auf der Fensterbank
im dritten Stock
Remscheider Straße
es ist eine laue Sommernacht
nebenan ist eine ausgezogen
gegenüber sind welche
angekommen zwischen
den Häuserreihen, die
inzwischen mit Graffitis
auf die letzte Stunde
vorbereitet werden
eine Krake oder
ein Oktopus ist
bald fertig, am Ende
der Straße wartet
ein Native und ich
frage mich nicht, ob
man hier von kultureller
Aneignung oder Darstellung
sprechen muss oder kann
kann ich heute nicht leisten
überhaupt ist es ein
schwerfälliger Tag, der
Rhein singt eine Ballade
der Wind windet sich durch
die Geländer und die Brüstung
gerät nicht ins Wanken, sondern
sie führt einen Dialog im
Widerstand mit der
Strömung fahren die
Schiffe in zwei Richtungen
die Spaziergänge tun es
ihnen gleich, ein Mann auf
einem Fahrrad fährt
seinen Müll zu einer
öffentlichen Mülltonne und
er wirft einen schwarzen Beutel
aus Plastik in einen großen
Container, in den ich wenige
Minuten später mein Kaugummi
spucken werde

ich rieche nichts
aber es ist eine laue Sommernacht
ich denke an alles, gleichzeitig
es ist ein gutes Gefühl, aber
ich profitiere vom blinden Fleck, der
sich seit gestern und einigen Wochen
breit macht wie die Wunde des Helden
der eben doch nicht unverwundbar
nicht unbesiegbar ist, weil er
ein Mensch bleibt
bis zuletzt sprechen wir
über die einfachen Themen
und jetzt
spüre ich die Stille, weil du
wie eine Droge wirkst
die Linderung verspricht
gegen Schmerzen, die
ich längst nicht mehr
zu spüren geglaubt hatte

die gute Menschenseele
macht mich glücklich, das
ist ein Fakt, auch wenn ich
mich für einen Esoteriker
halte, bleibe ich
bei der Sache und
rufe dich an

die Mülheimer Brücke
wird saniert, im Bus
treffe ich eine Frau, die
ein aufgequollenes Gesicht
nicht unter der Schminke
verbergen kann und
ein Mann am Fahrrad
wirkt abgearbeitet
und ich dachte, dass
das Gesicht längst
Geschichte sein
müsste oder war

ich steige aus und
habe dich nicht
erreicht, aber
irgendwie doch

die Schule wirkt
verlassen, die
Menschen
– auch, aber
der labende Wind
trägt den Staub
aus den Straßen
die neue Zeit
wird großartig
bis wir sie
erleben, vergehen
noch drei Tage
dann sind wir
unendlich
ganz kurz

das Telefon
klingelt
die Nachbarn
stehen in der Tür
und besprechen
das Fastenbrechen
obwohl alle Männer
getauft sind

ein junges Paar
repräsentiert sich
gegenseitig die Rolle
der alten Welt

wir sind
das Morgenland
nicht heute, aber
bald.

Blicke

Im Bus
sitzt ein Kind
und sein Vater
sitzt auch
sie wechseln sich
ab, das Spiel auf
dem Handy
kommt mir
nicht bekannt
vor
ich fühle mich
alt

bei einem Umzug
flüchtet eine
Schildkröte aus
einer Blechdose
sie wird wieder
eingefangen

ich schaue
zu dir rüber
sie schaut zurück
wir fühlen uns wie
zwei Albatrosse
in der Großstadt

seine Augen
folgen der Anzeige
er kann sie trotzdem
nicht lesen und
drückt prophylaktisch

beim Bäcker wundere
ich mich, wieso es
manche Fremdwörter
leichter haben, sich in
der Alltäglichkeit zu
behaupten

ich denke an gestern
es fühlt sich wie
fliegen an

an der Bushaltestelle
steigt ein Mann in einem
Rollstuhl zu und lacht
wir reden kurz miteinander
über Billy Talent aber
ich bin spät dran, steige
an der nächsten Halte-
stelle aus und werfe
dir einen
flüchtigen Blick zu
in der Zukunft
werden wir einander
ein Vermächtnis sein
– oder nicht.

[…] „die Zukunft ist
eine Sache
für Optimisten“, sagt sie
lacht und ich
werde es auch tun
wenn wir uns
wiedersehen.

Die Hauptnahrung
von Albatrossen sind
Tintenfische – ich schreibe
ein Gedicht, so wie mir
der Schnabel gewachsen
ist, aber ich habe
keine Hände und du
singst auf dem Heimweg
es ist eine
fröhliche Zeit, die Menschen
bewundern uns nachmittags
um 4 Uhr, weil wir
Helden sind.

Mit Mütze, mehr nicht

An der Bushaltestelle
friert man nicht mehr
denn das Frühjahr
zeigt sich milde
im Übergang
lenkt ein seichter Regen
die Aufmerksamkeit
auf die Übergangsjacke
für einen Schirm
ist es nicht zu windig
sondern einfach
zu wenig nass
und irgendwas
sucht die Nähe
zur Natur
statt Abgrenzung
und in der Ferne
putzt ein junger Mann
die Fenster für
eine alte Frau, sie
raucht derweil
genüsslich eine
lange Zigarette
der Teer lagert sich
in Sekundenlangsamkeit
auf dem verdichteten Organ ab
das man medizinisch
eine ‚Raucherlunge‘ nennt
sie trinkt einen Schluck Milch
und freut sich des Tages
der schon seit Monaten
jeden Morgen ein letzter ist
nach der Aussage
verschiedener Ärzt:innen
stirbt die Hoffnung
auf einem Röntgenbild
die Frau und der Helfer
essen ein Stück
frischen Erdbeerkuchen
mit Sahne
und sie sagt: „wenigstens
kann ich jetzt in Ruhe
fett werden“
und der Mann lacht
weil er gleich
noch
zum Sport gehen
wird.

Eine junge Frau
beobachtet die Szene
an einer Bushaltestelle
sie trägt eine Mütze
mehr nicht.

wichtig, ganz wichtig

memo an die
eitelkeit
wichtig, ganz wichtig
dass man
indiependent
bleibt
denn wer so
opportun und
selbstgefällig
dass die Languste
die Auster küsst
erstickt an der Gräte
der eifersucht

schreib so
wie du fickst
oder iss öfter
mal ne gurke
zum frühstück

der Haubentaucher
hat den schnorchel entdeckt
er feiert die innovation
und legt sich
eine infusion
mit blingbling und
glitzer
strahlt die atomare
ewigkeit
im falschen lächeln
der preisträger:innen
und ihrer hofbegleitenden
die literatur sucht derweil
die exitstrategie
für die kritik
der vernunft

im hof
steht ein koffer
mit 10.000 mark
nimmst du ihn mit?

leistungsmenschen
maxkrusedilemma
popkultur
ökobauernhof
recyclingfascism
odereinfach
sauberbleiben

in der arktis legt das eis
eine schwarze weste
frei

sie wird meistbietend verkauft
an den jubel des identitären heimatvereins
der noch immer heldenlieder singt
und an der gulaschkanone über
die ‚zigneuerlösung‘ grübelt

einer hat sich entschieden
sie machen jetzt
gutetatenfürdiewelt
ohneinstaccountund
tikitiktoktakitika

ach, es ist so gutes wetter
auf der veranda
lieben sich zwei
libellen und ein delfin
wandert durch die tracheen
bis in den serverraum
um dort ein
käsebrot zu vernichten

dann zieht sich ein
kritiker eine brille auf
und ein professor sagt
es sei wirklich ein
herausragendes jahr
für neue gedichte

dann lieben sich
zwei buchstaben
und
produzieren
ein betabet

der keim erstickt
am komma
während ein
semikolon noch
die brücke der
bedeutung
restauriert
setzt der
punkt sich selbst
ein ende

kulturschaffende
feiern sich derweil
selbst und verleihen
fünf gelbe sterne
in deutschland
für
herausragende leistungen – schweigen
zur nationalen kultur – applaus
die kirschbäume blühen
ein vogel kackt auf
das zielfoto
und ein gabelstapler
sortiert die luft
für die klassengesellschaft
.
bleiben sie sauber
bleiben sie unabhängig
bleiben sie mensch
bleiben sie bedeutungslos
sonst droht der ruin

die grammatik führt
eine toxische beziehung
zu einer studienfreundin
und ein arzt sitzt daneben
und staunt

inzwischen sind sie alt
sie sitzen noch immer da
im fernsehen hält einer
einen pokal hoch
er hat statische gedichte
geschrieben
er ist der deutsche geist
den alle als heiligenbild
auf ihrer iris tragen
und niemand spricht
über das offene geheimnis
das innen, ganz tief
als hoffnung sitzt

ein fremdes königreich
erschießt zwei demokrat:innen
sie haben nur
eine anmerkung gemacht

ich habe heute kein foto
für dich, aber botox

eine leihmutter
verliebt sich in das kind
sie wird erschossen

der preisträger
hält den jungen
jubilierend in die menge
und er feiert die
märtyrerin

und sein gewissen
feiert sicht selbst

alle jubeln

der frühling
lässt mich vermuten
dass alles nur ein böser
traum ist, aber
sind träume nicht manchmal
die eigentliche realität

ein nashorn
freut sich in einem heißluftballon
darüber, wie schön das rheinland ist
und der ewige narr
singt ein lied ohne text
seine zunge wurde
für die ewigkeit präpariert
der mann
macht seine sache
trotzdem sehr gut
er ist ein
stachel im fleisch
der absolutisten, die ihre
kinder zum politischen
inzest verpflichten

morgen wird sich
alles ändern

ach, wie gut
dass niemand weiß
dass das alles nur
erfunden ist

der tennisschläger
ist beim eishockey
kein vorteil, aber
ein statement

einer lacht ohne zähne
und hält die rote fahne
in die luft
sie freuen sich
dass mal wieder einer
so viel liebe zeigt
und
drei kinder schreiben anmerkungen
in bücher von marx
und
erzählen niemandem
ihr dunkles geheimnis

sie werden sie jagen
weil sie Alternativen sind
sind sie eine gefahr
für wen eigentlich

schafft alle preise ab
sie machen nur
unglücklich

oder befangen

oder beides

das telefon klingt
unbekannte stimme
er sagt: „hallo hier kruse, wer da“
und sie sagt: „aber du hast doch angerufen“
er sagt: „hä, wie genial!“
eine dritte stimme sagt jetzt: „legen sie bitte auf,
wir erwarten einen wichtigen anruf aus
dem himmelreich der genies“
beide zeigen verständnis
und dann
reißt der kontakt ab

eine auskunft
gibt es nicht mehr
das telefon ist jetzt
ein autoscooter den
man trinken kann

ich schieße eine
Rose für Rosa.

Unbesiegbar

Es ist eine
ruhige Geschichte
wenn du die Flugzeuge zählst
denke ich an Erdbeermarmelade
und draußen liegt ein Hund
in der Sonne und denkt
an ein lustiges Katzenfoto
das Gemüse kommt frisch
von den Feldern aus
dieser Region und es riecht
nach Vitaminen und nach Natur
die Nudeln warten darauf
ins Wasser zu fallen
und die Sonne
kündigt den Sommer an
wir denken zusammen daran
drei Tage werden wir
uns daran erinnern, dass es
niemanden gibt
der uns das Salz nehmen kann

wir sind unbesiegbar
das Jetzt kocht sich weich
du kommst durch die Tür
es riecht nach Zuhause.

Einrichtungen

Mein Zeugnis
sagt mir und der
Abteilung Human Ressources
dass ich ein kluger Mensch
bin, aber kein Genie
eine Lücke in der
makellosen Biografie
findet sich immer
und ich habe Angst
dass mein geringer Status
noch geringer wird
die Verhandlungen
führen Verlierer und
der Vorstadt
erhöht seine Gehälter
um 15%
weil oder obwohl
das Defizit dieses Jahr
bei 297.200.403,10 Euro liegt
der Streik schafft es
in die Presse
die Arbeiter:innen
haben die Arschkarte
wie immer

alle wollen gerne
oben stehen.

Staub

Die Autobahn
führt hinein in die Stadt
die Menschen flüchten
in ihren Geschossen in
den Tag, die Arbeit
sie hoffen darauf
das Leben zu finden
und vergessen
dass es
nicht der Gummiabrieb
der Reifen ist, der
ihnen das
nächste Glück
ankündigt, sondern
der Moment
wenn sie
einen Parkplatz
gefunden haben
werden (Zukunft)
und ein Spatz
singt derweil
eine Hymne auf
das Tulpenfeld.

Dialog zwischen zwei Büchern

Sagt der Schamoni
zum Zaimoglu
lass ma zusammen was
machen, was starten
was dichten oder
so richtig krassen
Scheiß grabben

„Man wird sich fragen, woher ich das so genau weiß.
Ich bin keine Nutte oder so.“
Banu, Barfrau, inzwischen vermutlich nicht mehr 33

„Wir sind die Band. Wir spielen hier heute Abend.“
Er schrubbt weiter die Gläser.
Irgendwo in Dortmund, vor einiger Zeit (fiktive Realität).

„Wir pusten in ein langes, grobes ofenrohr.“
Mehmet, damals 29, seinerzeit Dichter, heute Held?

„Drüsen, Botenstoffe, synaptische Kontakte, ein dunkler, weicher Dschungel aus organischen Verbindungen in meinem Inneren. […] Ich trage nur noch schwarz.
Schamoni 2007, professioneller Dorfpunk, begnadeter Musiker, für immer Legende

Was kann man aus der Literatur lernen
fragen sich zwei alte Lehrerinnen
auf einer Parkbank in Köln-Mülheim

die Antwort geht unter
weil gerade ein Bus vorbeifährt
die Straßenbahn bimmelt
einer schaut auf sein Handy
eine andere auch
das Ungeborene auch
jemand liest ein Buch
er hört CDs mit einem Discman
er ist ein Gott, eine Sie oder
einfach ein geschlechtsloser Engel
der sich so durchschlägt
als Held der Erzählung
und er verkauft sich (früher)
und heute Chrystal
seine Geschichte
singt er dem Rhein vor

„Kämpfen oder Klappe halten […] Es ist schon komisch mit den Deutschen. Sie kommen und beobachten stundenlang, aber wenn man sie anredet, dann laufen sie ganz schnell raus.“
Mihriban, 30, Gemüseverkäuferin [ihrer Zeit voraus!]

„Übrigens, vergiss die Kinderfunke und ruf mich an, wenn du magst: 4393784 – Mia.“
Mitschrift von Rocko offensichtlich veraltet oder Zahlendreher drin. Selbstversuch gemacht, geht keiner ran… Mia, wo bist du?

Der Rhein sagt
es gibt heute keine
sichere Wahrheit mehr
aber es gibt in jedem Fall
irgendwo eine
unsichtbare Quelle, die
irgendwie real sein muss

irgendwo muss das
ganze Wasser ja
herkommen, aber
letztes Jahr war es
schon weniger
was passiert
wenn die Quellen in
der Zukunft nicht mehr
liefern, dann
denken wir uns
was auf, dann
erzählen wir von der Stadt
die damals am Fluss lag
und gehen barfuß
über den Schotter auf
die andere Seite.

Der Inhalt konnte nicht gefunden werden

Diverse Angaben
perfekte Lebensläufe
gelungene Textproben
bedeutsame Anlagen
wichtige Verträge
und Gutachten
von herausragenden Menschen
all das kann dem Antrag
nicht beigelegt werden
da er nicht gestellt wird
denn er wurde nicht
gefunden
Aufgabe hat sich somit
erledigt
das Kunstwerk
muss somit
nicht bewertet werden
danke für gar nichts
und
für den freien Tag
viele Grüße an
die Jury.

Machtkomplexe

Spieler vor Fantribüne
sorgt für
erhitzte Gemüter
schlechte Verlierer
treffen auf fragwürdige
Gewinner

es ist ein
seltsames Spektakel
patriarchaler Komplexe
und die Mächte die
hier wirksam sind
sind bedingungslos
auf Unterwerfung
ausgerichtet
wer Gewinner sucht
produziert Verlierer, das
ist die wenig
seltsame Wahrheit
und irgendwo
glaubt noch jemand
an Menschenrechte
und Inklusion
der Leistungssport
kennt nur das Recht
der Stärke
finde dich damit ab
das ist Evolution

unter der Woche fast
geheult, wie ein ›Mädchen‹
schlechte Verlierer
treffen auf, vielleicht
fragwürdige Gewinner
es ist nicht gut, wenn
man Macht akkumuliert
über Jahre, Jahrzehnte
das Geld lässt
keine Gleichheit zu
sondern Unterschiede

wer das Erbe antritt
glaubt schnell, dass man
ein Recht auf die Lücke hat
die Dominanz der
funktionierenden Figur
die Marionette, mit der man
glaubt, dass man eine
freie und egalitäre Person ist
obwohl man doch nur
in den Fängen der
globalen Maschine
ein Spiel für das Volk
produziert

der Vater holt
den Jungen
vom Sportplatz ab
er ist nicht mehr da
sondern im
Nachwuchsleistungszentrum
beginnt die Auswertung
seines Potenzials
und das Programm stellt
fest, dass er bis zur B-Jugend
brauchbar ist, danach
wird das Kind egal sein
verbraucht und
verloren in der Hoffnung
ein Auserwählter zu sein

bringt der armen Sau
mal in Ruhe ein Bier
und ein Leben
es ist doch nur Fußball
und (noch)
kein Faschismus.

Stellenausschreibung

Gesucht wird
jemand der auf 50% arbeitet
und der trotzdem 100 leistet
der sich unterwirft
der nett zu Kollegen ist
und zu Kolleginnen auch
aber nicht so
das soziale Gefüge sollte
sowieso nicht bedroht werden
offiziell sind hier alle verheiratet
aber niemand ist noch katholisch
protestantisch sind alle
wenn man die Arbeit betrachtet
aber darüber wird wenig gesprochen
christlich wiederum ist kaum jemand
denn der oder die Nächste ist
immer ein Feind oder eine Konkurrentin
man muss sich messen, der Maßstab
das Auto, das Haus, die Kinder
ich komme aus einer Handwerkerfamilie
mit meinem Zollstock bin ich geübt
dennoch kapituliere ich manchmal
weil ich die Genauigkeit suche und
weil ich die Ungenauigkeit sehe

früher hat mich das zum Reden animiert
dann lange zum Schweigen und inzwischen
ist es mir egal, ich haue einfach alles raus
neue Freundschaften schließt man ohnehin
nicht auf Knopfdruck oder durch Kalkulation
manche nutzen eine App, aber ich
selektiere ungerne die Filterporen der Herren
und Damen, die alle in Verantwortung stehen
nach eigener Aussage sind alle irgendwo
in leitender Position, fast wie bei den Nazis
jeder hat ein Amt, einen Orden, es ist schrecklich
ich bin gerne kein Resonanzverstärker
aber ich schieße trotzdem zurück
oder ich reflektiere das Nichts
es ist die blinde Eitelkeit
blanke Verzweiflung

habe ein Telefonat mit Katharina geführt
sie lässt schön grüßen und sagt, dass ihre Zelle
geräumig ist und in einem hellen Gelb gestrichen
die Ausrichtung ist gut, es kommt morgens Sonne hinein
mittags wird es nicht zu warm und abends hört man
keinen Verkehr von der Straße, sie arbeitet inzwischen
als Reinigungskraft in einem Betrieb mit dem sie
auch mal nach draußen kommt. Ein Bürokomplex
greift auf die Fachkräfte zurück und bezahlt
für die „Kanaillen“, die „froh sein können“, nun „immerhin“
den Mindestlohn, was zu viel ist, wenn man bedenkt
dass man im Knast natürlich freie Kost und Logis hat
es ist bei den aktuellen Mietpreisen keine schlechte Option
draußen muss man kämpfen, im Knast hat man
seinen Status schnell sicher. Wenn man sich in der
freien Welt behauptet hat, dann sieht man hier
nicht mehr viel Neues. Die Dummen sind
die Verbrecher, die man kriegt
oder die Schlauen.
Sie wird als Heldin gefeiert und leitet
den Gefangenenchor, ganz ohne Zorn singen sie
hier religiöse Lieder und Songs von Mark und Lena.

kommen wir zurück
da sitzt die Kommission
sie sind alle gut gelaunt
es wirkt wie im Kasperletheater
und ich frage mich, wer das Krokodil ist
aber niemand trägt ein grünes Hemd
es ist wirklich schwierig
ich habe den Fragebogen ausgefüllt
es werden genau dieselben Fragen gestellt
keine Überraschungen, es scheint ein Ritual zu sein
ich mache einen kurzen Vortrag daraus
schaue alle an und irgendwie sehe ich
wenig kompetente Geister in diesem Raum
wobei es natürlich positiv ist, wenn man
keine Geister sieht, denn das spricht ja
für die psychopathologische Integrität
es folgt ein wenig übliches Gerede
alle Klischees werden abgefragt
wie geht man mit „Frauen und Behinderten“ um (hier: kein aka)
was kann man zum Team beitragen (aka „wie ordnest du dich unter“)
wie entwickelst du das Fach weiter (aka „wie viel arbeitest du on top“)
was hast du schon erlebt (aka „wieso lebst du nicht so wie alle anderen“)
Reihenfolge geändert, fünfte Frage war belanglos

nach circa 10 Minuten bedankt man sich
keine Fragen, euer Ehren und
ein kurzer Handschlag entlässt einen
in die wilde Maus des Lebens
die nächste Hoffnung kommt einem
im Flur schon entgegen, es ist
ein würdeloses Spektakel
wenn man bedenkt, dass ein
unsichtbares Framing längst
für das gewollte Kind entworfen ist

die Ausschreibung ist beendet
die Demokratie und die Verfassung
fühlen sich verarscht und
ich eile mit einem Sprühpflaster heran
ein Sonnenstrahl tritt durch das Fenster
und Katarina vertauscht derweil
die Tasten auf dem Keyboard von ZYX
es ist ein guter Tag für neue Zärtlichkeiten
wenn Arschlöcher zudringlich bleiben
und noch schlimmer: Naive Idiot:innen.

Eingangskontrolle

Ich stehe an der Tür
und schaue
wer hier hinein
und wie oder mit wem
er oder sie hinausgehen
manchmal haue ich
dazwischen
ich bin nicht schlechter
als meine Kollegen
aber ich muss mich
trotzdem
immer wieder erklären
beweisen und
manchmal lachen mich
beim Hineingehen
manche heimlich aus
Männer wie Frauen
da gibt es, so gesehen
kaum Unterschiede
aber es gibt natürlich
auch die coolen Menschen
denen das alles entweder
egal ist, weil es ihnen nicht
auffällt oder weil sie
die Abweichung von
der Norm gar nicht sehen
weil sie längst neue Kategorien
für sich fest verankert haben
oder ohne gut leben

ich bin Martina, 23
ich stehe am Rose Club
ich mache die Tür
ich bin in der Zukunft
und komme
aus der Vergangenheit.