Prolog
Ich kann in Bildern nicht sagen, /
was ich in den letzten Tagen
gesehen, gehört und gefühlt habe.
Aber ich kann als Erlebnis erzählen, /
darüber schreiben
und dies sind
die entsprechenden Worte.
Ich kann in Bildern nicht sagen, /
was ich in den letzten Tagen
gesehen, gehört und gefühlt habe.
Aber ich kann als Erlebnis erzählen, /
darüber schreiben
und dies sind
die entsprechenden Worte.
In der Stadt war alles in jeder Hinsicht laut. Zu laut. Meine Großmutter hatte ein sehr feinfühliges Gehör von musischer Qualität, das mit dem industriellen Rauschen nicht wirklich zurechtkam. Wenn sie hier mal nichts hörte, blieb doch ein diffuser Lärm, der ihr Nervenkostüm derart strapazierte, dass sie über die Intensität ihrer reflexhaften Fürsorge jede Kontrolle verlor. Ich schätze, sie stand wirklich jedes Mal unter Hochspannung und war schlichtweg überfordert, wenn sie ihr Haus verließ und unseres nach einigen Stunden der räumlichen Überwindung betrat. Das hier war fremdes Gewässer. Doch das Schwimmen hatte sie nie gelernt und daher machten ihr Herausforderungen maritimer Natur begründete Angst. Meine Großmutter kannte nur den richtigen Wald und hatte fast ihr ganzes Leben im Dorf verbracht. Auf dem Land hielt sie den Kopf natürlich über Wasser. Orientierung fand sie abseits der ausgetretenen Pfade. Das Haus verließ sie nur, wenn sie neben Ruhe auch frische Luft suchte. Manchmal brachte sie von Spaziergängen Pilze mit. Nicht immer. Das Dorf verließ sie sonst nur, wenn sie zu uns zu Besuch kam.
Hier gab es fast nur Beton, Pflastersteine oder Asphalt; hin und wieder ein Baumkarree mit einem Häufchen Erde und Hund. Unsere Pfade waren nicht ausgetreten, sondern professionell verdichtet und wurden nicht infrage gestellt. Jeder hatte einen eigenen Namen, was meine Großmutter irritierte. Ein Abseits gab es nicht. Essbare Pilze auch nicht. Das Laub der wenigen Bäume wurde im Herbst sorgsam gekehrt. Ein Erfolgserlebnis für die Straßenkehrer, die den täglichen Müll nie beseitigen konnten. Auf der Oberfläche und sogar darunter (was meiner Großmutter zeitlebens ein Rätsel blieb), bewegten sich Menschen mit Dingen oder Gegenständen in und auf Objekten oder durch sie hindurch. Mobilität war stets gewährleistet. Wurde fast manisch praktiziert. Orientierung fanden technische Begleiter. Wenn es dunkel wurde, leuchteten sie. Manchmal stießen sich die Menschen dennoch aneinander. Natürlich. Alles flüchtig. Das Licht wie der drückende Nachthimmel und der unsichtbare Rauch auf der Straße über dem endlosen Asphalt. Tiefgründig drang alles in die Lungen. In alle. Es setzte sich fest. Drang ein, um zu verbleiben, während irgendwo ein Apotheker Hustensaft verkauft. Gegen die Erkältung. Den Schnupfen. Die drohende Gefahr. Für die Gesundheit. Ewiges Fieber. Anhaltend. Trotz isolierter Kapseln und Medikation. Panisch steigt irgendwo einer ein und ein anderer hektisch wieder aus. Dann Verkehr. Zähe Masse. Gestern und heute. Hin und her. „Hauptsache!“ Und morgen? Pferde aus Blech und Stahl mit einem Bauch voll raffiniertem Erdöl galoppierten bei jedem Wetter. Ihre Körper wurden warm; ja, sogar heiß! Ihr Geruch war seltsam. Anders; er hatte nichts mit Stall zu tun und roch doch wie der Atem eines toten Tieres. Manchmal vergewisserte man sich ihrer Existenz und nutzte dafür das eigens entwickelte Verfahren der Geschwindigkeitsphotographie. Sie mussten heizen. Sommer wie Winter. Kälte, Rekorde! Brechen und biegen. Karambolage. Das Rennen geht weiter. Bei jedem Wetter. Wetten. Darauf; Blitzlichtgewitter. Applaus.
Du sagst es
ich verstehe dich
nicht wörtlich
aber als Mensch
du mich auch
und wir sprechen
miteinander
über alles
und wir sind
dadurch
für den Moment
unbesiegbar
und du trägst
das auf der Zunge
was ich
ohne dich
nie aussprechen
könnte
und denken
schon gar nicht
mach bitte
noch etwas weiter
dann ist die
Stille
im Lärm
weniger laut
ein bisschen
lächelt
das Wort
über
uns
und
wir
lächeln
mit ihm
über
die Stille
der
Vernunft.
02. August 22
17:03 Uhr
Mal wieder ein Heft
Das große Aufräumen
beginnt
in der Sprache
————————————-
ein Kaffee
ein Kuchen
im Sommer
kein Eis
___________________
ZUCKERSUESZ
___________________
Die nackte
Haut
riecht nach
Schweiß
der
die Arbeit
schlecht
bezahlte Männer
müssen
aufstoßen
______________________
Großstadtgeflüster
Männerromantik
Kapitalismus
Pornographie
______________________
Ein Mann steht
an einer Ecke
und lacht
ohne Zähne
über die Krankenversicherung
________________________________
Der Zahnarzt verliert
seine Rente am
Kapitalmarkt
gegen
die zockende Tochter
(Korrektur: Sohn, Frauen sind
kein(e) Spiel(er)) (09.12.22)
– Frauen auf
Instagram
suchen
Einfluss
im Nichts
der Bedeutungslosigkeit
Während der Passage:
Denken an
Rocko Schamoni
__________________________________________
Conclusio: früher war alles besser!
(Stimme aus dem Off wird von
der Regie (weiblich) zurechtgewiesen)
Schauspieler „schläft sich hoch“
und scheitert an der Rolle
Psychotherapie auf der Besetzungscouch
Am Tisch sitzen zwei Frauen
vermutlich Mutter und Tochter
links ein Kinderstuhl
Barhocker
eine Theke am Fenster
dort sitze ich sonst
immer | früher | Freude auf den Herbst
-> Stichwort: Auch eine Geschichte der Philosophie
Frauen säßen mir in der Zukunft
im Rücken, mein Blick wäre
auf die Straße gerichtet
kontra Hopper
Sprache versteh ich nicht; Dialog
-> kein Ton bei Gemälde
Protagonist geht Stereotype aufräumen (09.12.22)
Immerhin hatte ich es meiner Mutter schon damals leicht gemacht, da ich gleich zu Beginn etwas schmächtig war und wenig auf den Rippen hatte, wie es meine Großmutter nicht müde wurde, bei Familienfeiern zu betonen. Dabei fasste sie mir jedes Mal und manche Tage auch mehrmals so kräftig an meinen ihr nächstgelegenen Oberarm, dass ich hoffte, am darauffolgenden Tag keinen Schulsport zu haben, denn spätestens beim Schwimmtraining, das ich aus anderen Gründen hasste, wäre es dann zu Irritationen gekommen, die ein Vorsprechen meiner Eltern mindestens beim Klassenlehrer, vielleicht sogar beim Schulleiter und einen Folgebesuch des Jugendamtes bei uns zu Hause ausgelöst und den Hausfrieden von Amts wegen bedroht hätten.
Glücklicherweise lagen die Familienfeiern meist kurz vor den Wochenenden oder wenigstens nicht im näheren Bereich meines Sportunterrichts. Ich ersparte es mir und den Betroffenen so darauf hinzuweisen, dass eine wirkliche Klärung des Sachverhalts nur im Rahmen einer Geburtstagsfeier in unserem Hause zu erreichen sei, was wiederum beim Jugendamt für einen schlechten Scherz gehalten worden wäre und gleichzeitig dennoch der Wahrheit entsprochen hätte. Es wäre allen Beteiligten schließlich aber nur so sehr schnell klar geworden, dass es meine Großmutter auf ihre Weise im Grunde nur gut meinte. Am ringförmigen Hämatom änderte das natürlich nichts.
Ihre Hand schaffte es wenigstens in den ersten Jahren, also kurz nachdem ich das selbstständige Laufen gelernt hatte, die, zugegeben, auch in späteren Jahren noch nicht weniger bescheidene Muskulatur des Oberarms in einer Demonstration eigener Stärke ganz zu umschließen. Das änderte sich zwar im Laufe der Jahre und vergleichsweise schnell, weil selbst meine Arme an Umfang zulegten und die Mutter meines Vaters sehr kleine Hände hatte. Im Kopf blieb es trotzdem auch später immer der Griff der frühen Jahre. Selbst als er irgendwann ausblieb.
Liebevoll, schmerzhaft – irgendwie wusste ich, dass sie ihre schützende Gewalt lediglich zur Gefahrenabwehr einsetzte. Wahrscheinlich hörte sie in ihrem Kopf irgendwo ständig ein zu schnell fahrendes Auto oder ahnte in der Umgebung eine gefährliche Kreuzung, auf die man geradewegs zusteuerte und deren erst neulich bei einer routinemäßigen Wartungsarbeit sorgsam ausgetauschte Ampelschaltung just dann ausfallen würde, wenn man sie denn zu passieren gedachte. Sie hörte Sirenen, wo noch kein Unfall war, und sah Verletzte, wo es keine gab. Der Krankenwagen war in ihrem Kopf, aber das hatte Gründe, die hier nicht weiter ausgeführt werden können.
Er geht durch die Tür
auf der anderen Seite des Raumes
wartet eine Person
sie sitzt hinter einem Bildschirm
ein Fenster im Rücken
der Blick nach draußen
alles läuft nur virtuell ab
die Jalousien sind heruntergelassen
das LED-Licht macht den Raum
zu einem Aquarium ohne Wasser
es ist ohnehin besser
nicht zu viel in die Welt zu schauen
umso besser auch
dass heute das Internet ausgefallen ist
der Verwaltungsfachangestellte erhebt sich
er schaut freundlich in das Gesicht
seines Besuchers
sie setzen sich gemeinsam
zurück an den Tisch
auf dem ein Foto der Familie steht
sie erzählen darüber, dass sie
nie so spießig werden wollten
nie so, wie sie sich jetzt auf dem Bild begegnen
heute wissen sie nicht mal mehr, was ’spießig‘ daran ist
sie riechen die Armut als Angst
sie planen den Skiurlaub diesmal
nicht auf ihrem Smartphone
sie erzählen stattdessen über die Inflation
sie können die Kredite
gerade noch bedienen
das Haus, das Auto, das Glück
sie fühlen sich wie Männer
aus einer Werbung der 90er
aber weniger unbefangen
denn sie sind auch ihre Frauen
sie bezahlen dafür
und alles wartet darauf
dass endlich jemand
mit dem Hammer
die Blase sprengt
in der sie lethargisch
daran verzweifeln
dass ihre Gefühle
sich im Raum
nicht so verbinden
dass er ein Zimmer
mit Atmosphäre
und Zuneigung wird
dann stempeln sie aus
und fahren zusammen
nach Hause
bis das Internet
wieder geht
und morgen
machen sie weiter
dann richtig
ohne Gespräche
mitten im Raum
ohne Zimmer
zusammen
mitten im Leben
in einem Beruf
in einer Familie
in einem Ich ohne
Wir.
Vom Himmel herab
steigt heute
nicht Gott
nicht seine Göttin
auch keine andere
– freie Gestalt.
Der Regen gießt
die Winterdepression
wächst sich aus in
lila und aquamarin
sind die Streifen
auf deiner
Retrotrainingsanzugsjacke
auf der alles verdunstet
wie auf einem heißen
Espressokocher
dampfst du Koffein
in die Nacht
in der ich
die Sonne
vor Freude
vergesse
und in die Tasche stecke
und damit
durch den Zoll des Lebens komme.
Erfolgreich
fliegen wir
– klimaneutral
regnest du mich
auf die Traurigen nieder
und bringst mir ihnen
den Funken und die
Hoffnung
das Glück
zurück
in der Nacht
sind wir grau
schön
und
unbesiegbar.
Wir
verbrennen das Leben
zusammen
in zwanzig Minuten
ein Schauer
Liebe
dunstet aus uns
das ist
Vergeltung.
Nebenbei wird eine Studie erstellt,
die im Frühjahr erscheint
und über
alles entscheidet,
was heute schon war.
Sie beten ihn an
oder sie
und vor allem
sich selbst
sie sind so großartig
konservativ
und
Opportunisten
mit dem alten Versprechen
der ernsthaften Erneuerung
„eigentlich sind wir anders“
predigen
die alten Funktionäre
weiße Männer
– und Frauen
nur nicht mehr „ihre“
alle gehören endlich
sich selbst
also
niemandem
oder doch?
Ich kann rückblickend sagen, dass das Erkennen der eigenen Physis mich darin bestärkt hat, an die Existenz eines höheren oder göttlichen Wesens zu glauben. Denn wer oder was auch immer uns durch den Geburtskanal der eigenen Mutter auf die Welt katapultierte, – das konnte kein Zufall sein. Dafür war das Geschäft der Geburt einfach zu anstrengend und gefährlich.
Zudem würde sich das ganze Spektakel, begleitet von schmierigen Flüssigkeiten, seltsamen Gerüchen und vor allem großen Schmerzen, für einen wie mich kaum lohnen. Zumindest aus rein körperlicher Perspektive betrachtet und im Sinne einer effizienten Ästhetik. Und würden nicht wenigstens Neugeborene den Schmerz ihrer Reise offensichtlich gleich wieder vergessen, es gäbe wahrscheinlich nicht einen Menschen, der einen anderen noch einmal auf diesen beschwerlichen Weg bis ans Ende des Tunnels schicken würde. Abgesehen natürlich von einigen Sadisten, die es ja ohne Frage zu geben scheint und bei allem möglichen Spaß am Vorgang der Zeugung.
Durch die Wipfel der Bäume
atmet der Wind deine
Stimme spricht
aus den Blättern
wie ein leuchtendes Fragment
aus dem Gestern
ganz nah
bist du mir
wie eine Gefährtin
die geht
gehen muss
aber nie ganz
und manchmal
schimmert
der Horizont durch
durch die Stimmen
des Waldes
die uns
beobachten
wenn wir uns lieben
auch
wenn wir jetzt
alt sind.
Du lachst so schön
durch den Advent
drum ist’s egal
wenn beim großen
– Stromausfall –
des Nachts
kein Lichtlein brennt.
Du trägst uns
trotzdem
sicher bis ans Ziel
und jeder weiß
schlimm wär’s erst
wenn
auch das
ausfiel.
Als ich vor der Tür stand, meine Schlüssel offensichtlich vergessen hatte und nun beim erneuten Abtasten meines Körpers feststellen musste, dass auch mein Smartphone nicht in erreichbarer Nähe war, bemerkte ich plötzlich, dass es keine Telefonzellen mehr gab. Auch die Nummer von Peter fiel mir nicht ein, obwohl es immer noch der alte Festnetzanschluss war, auf dem er sich ausschließlich anrufen ließ.
Er selbst nutzte das Telefon selten für ausgehende Gespräche. Eigentlich gar nicht. Zumindest erinnerte ich mich an keinen Fall, in dem Peter mich mal angerufen hatte, und wir kannten uns nun immerhin schon gut dreißig Jahre, was mich überraschte, als ich darüber nachdachte.
Ich versuchte mir die Zahl vor Augen zu führen und malte sie dazu mit meinem rechten Zeigefinger in die Luft vor die verschlossene Eichentür, als wäre es die abgefallene Hausnummer und als wäre ich ein Paketbote auf der Suche nach dem Klingelschild „Müller“. Wie viel Zeit passt in dreißig Jahre, fragte ich mich –
Ich scheiterte in einer zufriedenstellenden Beantwortung und nutzte den Moment für eine flüchtige Altersmelancholie, die mir aber zu früh kam, daher überführte ich die angesprochene Zeit umgehend in eine Raffung und folgte einem mir mittlerweile sehr gut eingeübten und beinahe intuitiv funktionierenden Pragmatismus: Ich beschloss, dass dreißig Jahre eine „ganz schön lange Zeit“ seien und lachte vorsorglich, wie ich es mir üblicherweise für den sogenannten „Small Talk“ in Kneipen vorbehielt, um darin eine gute Figur zu machen. Ich hatte genau das seinerzeit zu Hause vor einem extra dafür angeschafften Spiegel als Reaktion für Zweifelsfälle einstudiert, nachdem es redebedingt wiederholt zu einigen Vorfällen gekommen war, von denen manche in einem Kontext der physischen Gewalt mündeten.
Während meiner präventiv durchgeführten Übungen tendierte ich zunehmend dazu, den Schluss zuzulassen, der Spiegel sei genau für diesen Zweck und extra für mich angefertigt worden. Zu präzise erschien mir der Kommentar, den er hinterließ, wenn ich mich ihm übermütig präsentierte und die Hosen fallen ließ.
Man könnte sagen, dass ich, hin und wieder selbst von mir erschrocken, dem hageren Fleisch gegenüberstand, als warte es auf den Wolf, um ihn doch noch davon zu überzeugen, dass es seiner eigentlichen Natur entspräche, sich vegan zu ernähren. Der Wolf kam nie, aber an meiner gebrechlichen Statur änderte das wenig.